Sikyon und seine Chimaira


mit freundlicher Genehmigung von Hans Voegtli / ACAMA

Als Pausanias etwa im Jahre 160 n. Chr. Sikyon besuchte, fand er es fast menschenleer vor. Ein Erdbeben hatte im Jahre 140 die einstmals so reiche und prachtvolle Stadt in Trümmer gelegt, so daß der Reisende nur noch Ruinen besichtigen konnte.
Wie anders muß Sikyon ausgesehen haben, als Mitte des 5. Jahrhunderts die ersten Statere vom Typ Chimaira / Taube eingeführt wurden. Sikyon war eine reiche Stadt inmitten einer fruchtbaren Ebene, deren Weine und Oliven Berühmtheit erlangten. Ja, die ganze Ebene wurde nach den auf ihr wachsenden Gurken Gurkenfeld = Sikyonia benannt. Außerdem besaß die Stadt den Ruf ein Zentrum der Künste zu sein. Kanachos, Polykleitos und Lysippos lebten und wirkten in Sikyon, um nur einige der großen Namen zu nennen.

SIKYON. Stater, um 390 v. Chr. Chimaira n. r. Rev. Taube in einem Olivenkranz n. l. fliegend. 12.10 g. SNG Lockett 2323.

So ist es kein Wunder, daß die Statere von Sikyon zum Schönsten gehören, was griechische Stempelkunst hervorgebracht hat. Allein schon die feine Gestaltung der Chimaira auf der Vorderseite der hier gezeigten Münze! Deutlich sieht man die drei Teile, aus denen das sagenhafte Tier zusammengesetzt ist: Der Löwenkopf, Leib und Kopf der Schlange als Schwanz, sowie in der Mitte das Tier, das dem ganzen Fabelwesen seinen Namen gab: Die Ziege, griechisch „kimeira“. Dieses Untier galt als Schwester des Höllenhundes Kerberos, der von Herakles besiegten Hydra und der thebanischen Sphinx. Sie atmete Feuer und so brachten schon die antiken Mythenerklärer sie mit den feuerspeienden Vulkanen in Verbindung. Sikyon war weit von jedem Vulkan entfernt. Warum entschieden sich die Adeligen der Stadt trotzdem für diese Darstellung als Symbol ihrer Gemeinschaft? Warum verbannten sie für die Chimaira die Taube, die früher für Sikyon gestanden hatte, auf die Rückseite ihrer Münzen?
Die Taube ist mit einer der Hauptgottheiten Sikyons verbunden, mit Aphrodite. Sie besaß einen wichtigen Tempel in Sikyon, in dem sich eine Goldelfenbeinstatue der Aphrodite von Kanachos befand. Dieser berühmte Bildhauer ist vor allem durch seine Statue des Apollon von Didyma in der Kunstgeschichte bekannt. Wir haben bei Pausanias eine Beschreibung dieser Aphrodite erhalten: Sie saß auf einem Thron und trug auf dem Kopf einen Polos, hielt in der einen Hand eine Mohnblüte, in der anderen einen Apfel; eine höchst ungewöhnliche Art der Darstellung von Aphrodite. Auch die Wahl ihrer Priesterinnen war merkwürdig: Die wichtigste Priesterin, die „Badträgerin“, mußte Jungfrau sein, ihre Amtskollegin mußte keusch leben – in wenigen Städten legte Aphrodite solchen Wert auf die guten Sitten ihrer Dienerinnen. Die Aphrodite von Sikyon scheint die Züge einer einheimischen Gottheit in sich integriert zu haben und es wundert niemanden, daß Demeter und Aphrodite sich im Norden des Peloponnes teilweise Attribute und Kultnamen teilen.

Die wohl bekannteste Chimaira ist die prachtvolle Bronzestatue aus etruskischer Zeit, die heute im archäologischen Museum von Florenz besichtigt werden kann. Foto: Lucarelli / Wikipedia.

Doch zurück zur Vorderseite, zur Chimaira. Zwei mögliche Erklärungen gibt es für die Wahl der Sikyonier. Zunächst ist natürlich der Mythos von Bellerophon in der Nähe der Stadt lokalisiert. Korinth galt in der Antike als der Ort, an dem Bellerophon den Pegasos zähmte, um ihn im Kampf gegen die Chimaira einzusetzen. Verschiedene Forscher glauben deshalb, daß die lokale Sage diesen Streit in der Nähe von Sikyon ansiedelte und sich Sikyon so auf seine großartige Vergangenheit berief. Doch seit Homer war in Griechenland eher eine andere Version bekannt: Die Chimaira galt als Geschöpf Lykiens, wo sich zahlreiche Herrscher für Nachkommen des Bellerophon hielten. Deshalb nimmt Léon Lacroix an, daß sich die Chimaira auf den alten, den ursprünglichen Namen Sikyons, Aigialeia, bezog. Der Wortstamm des Namens Aigialeia solle sich, so Lacroix vom griechischen aix, einem anderen Wort für Ziege ableiten, und der Hauptteil, das Besondere der Chimaira sei eben dieser dritte Ziegenkopf. Damit wären die Statere von Sikyon in eine Reihe zu stellen mit den Prägungen von Aigai oder denen von Aigeira.
Während des Peloponnesischen Krieges waren es – nach dem Verlust von Aegina an Athen – die Münzen von Sikyon, mit denen die Ausgaben des Spartanischen Bundes bezahlt wurden. Die Chimaira wird den Namen ihrer Stadt in die ganze Welt getragen haben und sicher wußten die Sikyonier auch genau zu erzählen, wie ihre Stadt mit dem Fabelwesen verbunden war. Aber die regionalen Überlieferungen überlebten nicht. Pausanias kam Jahre zu spät, um die Einheimischen nach ihren Mythen zu befragen. So werden wir wohl nie mehr als Vermutungen darüber anstellen können, wie die Chimaira mit Sikyon verbunden war.

Bethe, s. v. Bellerophon, RE V (1897), 241-251.
C. M. Kraay, Archaic and Classical Greek Coins, London 1976.
L. Lacroix, Quelques aspects de la numismatique sicyonienne, RBN 110 (1964) 5-52.
Lippold, s. v. Sikyon, RE II/2 (1923), 2528-2549.