Die Bergwerke von Melle

Als die Araber im 7. Jahrhundert n. Chr. auszogen, um ihrem neuen Glauben ein Weltreich zu erobern, veränderte sich nicht nur die religiöse und politische, sondern auch die wirtschaftliche Weltlage. Hatte das rückständige West- und Zentraleuropa bis dahin sein Gold aus dem byzantinischen Reich bezogen, klappte es nun mit dem Nachschub nicht mehr. Die merowingischen Münzmeister saßen auf dem Trockenen. War die Münzproduktion der Franken schon vorher nur in einem geringen Rahmen erfolgt, so drohte sie nun ganz einzuschlafen, sollte sich nicht irgendein unerwarteter Ausweg bieten.

Der heilige Eligius als Technologiepionier?
Vielleicht verdankt der Münzmeister Eligius seine Heiligsprechung dieser wirtschaftlichen Krise. Ian Blanchard, Autor einer umfassenden, dreibändigen Studie zu Bergbau, Metallurgie und Münzprägung im Mittelalter, weist darauf hin, daß unter Eligius in den königlichen Prägestätten von Marseille und Arles zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein großer Anteil Silber in die Legierung gemischt wurde, aus der man danach die Schrötlinge herstellte.

Abb. 1: Eligiuskelch, nach einem Kupferstich von 1793. Das Werk aus der Hand des Eligius erhielt sich im Kloster von Chelles bis zur französischen Revolution, als er eingeschmolzen wurde.

Eligius wurde 588 in dem kleinen Dorf Chaptelat nahe Limoges geboren. Dort lernte er bei einem weithin bekannten Goldschmied namens Abbo, der zusätzlich das Amt des königlichen Münzmeisters innehatte. Limoges war damals eine wichtige Handelsstadt. Blanchard postuliert, daß Eligius sich hier mit einer neuen Technik, wie sie im byzantinischen Reich und im Süden Frankreichs bereits erfolgreich angewandt wurde, vertraut machte. In Mittel- und Nordfrankreich, wo man bis dahin nur Methoden anwandte, wie sie schon die Antike gekannt hatte, war man nur dann in der Lage, ein Bergwerk rentabel zu betreiben, wenn das Gestein zwischen 12,5 und 95 Unzen Silber pro Tonne enthielt, also zwischen 356 Gramm und 2,693 Kilogramm pro Tonne. Dank der neuen Technik der Anreicherung, welche die Tatsache ausnutzte, daß Blei einen niedrigeren Schmelzpunkt hat als Silber, konnten nun alte römische Bergwerke, die bereits in der Antike ausgebeutet worden waren, wieder aufgemacht werden, um nun die noch nicht abgebauten, weniger Silber führenden Gesteinsschichten abzubauen.
Eligius könnte diese Technik gekannt haben, und vielleicht war es dieses Wissen, und nicht wie die Vita des hl. Eligius berichtet, der goldene Thron mit Edelsteinen, den er für König Chlothar II. schmiedete, was ihm seinen bevorzugten Platz als königlicher Münzmeister eroberte. Eligius wurde 625 mit der Führung der Münzstätten von Marseille, Arles und Paris betraut, und in den beiden ersteren, wie gesagt, wurde zum ersten Mal wieder Silber in großem Umfang als Münzmetall eingesetzt.

Melle, das antike Metulum
Eines der Bergwerke, aus denen das Silber für die Münzen kam, war Melle, das antike Metulum, dessen Namen eng mit dem lateinischen Wort für Bergwerk „metallum“ zusammenhängt. Hier befand sich ein gewaltiges Bleiglanzvorkommen, dessen Ausbeutung sich mit den alten Techniken nicht lohnte. Tatsächlich kennen wir keinen Beweis für irgendwelche Bergbauaktivitäten in der römischen Epoche.
Mit der neuen Technik aber wurde es rentabel, Melle auszubeuten, auch wenn in seinem Bleiglanz nur 2 Gramm Silber pro Kilo enthalten waren und aus einem Kilo Gestein nicht mehr als 10 Gramm Bleiglanz gewonnen werden konnten. So eröffnete man irgendwann, Ende des 7., Anfang des 8. Jahrhunderts n. Chr., als die gesamte Münzprägung des christlichen Abendlandes den Wechsel von Gold zum Silber vollzog, das Bergwerk von Melle.

Abb. 2: Karl der Große, 768-814. Denar aus Melle. MEC 728. Aus Auktion Münzen und Medaillen AG, Basel 81 (1995), 1003.

Melle war der Reichtum der Frankenkönige. Selbst die wenigen, uns heute noch erhaltenen karolingischen Münzen lassen allein durch den hohen Anteil der Denare aus der Münzstätte Metallum die Wichtigkeit dieses Bergwerks erkennen.
Dies alles wäre zwar wissenswert und spannend, einzigartig aber macht Melle, daß das Bergwerk nur im Mittelalter in Betrieb war, so haben sich die Stollen und Gänge im Originalzustand erhalten und – sie sind heute für Besucher offen, können in einer Rundtour begangen werden.

Abb. 3: Blick in eine frühmittelalterliche Galerie, von der zahlreiche Stollen ausgingen. Um eine ausreichende Abstützung des Gesteins zu gewährleisten, wurden zwischen den einzelnen Gängen große Steinpfeiler stehen gelassen.

Ein Besuch in Melle
Wer das Bergwerk von Melle sucht, den leiten schon im weiten Umkreis zahlreiche Wegweiser auf den richtigen Pfad. Der Eingang erfolgt ebenerdig durch einen neu erbauten Zugang. Im Mittelalter stiegen die Bergleute durch senkrechte Schächte in die waagrechten Galerien, von denen sie die bis zu 6 Meter dicken Schichten von Bleiglanz abbauten. Etwa 300 Meter so einer Galerie sind heute bequem zugänglich. Aber dies ist nur ein kleiner Teil des Minensystems. Die Wissenschaftler haben seit der Entdeckung der Stollen im 19. Jahrhundert ungefähr 20 Kilometer des unterirdischen Systems von Gängen erforscht.

Abb. 4: Geode mit Bleiglanzhaltigem Gestein.

Deutlich erkennt man noch heute an den Spuren im Gestein die Methode, mit der damals die Bleiglanz führende Schicht abgebaut wurde. Gerundete Steinflächen, die wie poliert wirken, sind das Resultat von Feuer. Die Bergleute brachten Holz in den Stollen, zündeten in nächster Nähe des zu sprengenden Felsen ihr Feuer an und warteten. Durch die Hitzeentwicklung, bei der Temperaturen bis zu 300 Grad entstanden, erlitt der Felsen einen Wärmeschock. Das spröde Gestein sprang, so daß es einige Tage nach dem Feuer, wenn sich die dadurch entstandenen giftigen Dämpfe verzogen hatten, im Stollen sortiert, die Bleiglanzhaltigen Steine an die Erdoberfläche gebracht werden konnten.
Diese Methode belastete die Umwelt enorm. Um einen Kubikmeter Stein zu sprengen, benötigte man – wie im archäologischen Experiment festgestellt wurde – 1.140 Kilogramm Holz. Ein Kubikmeter Stein entspricht 802 Kilogramm. Daraus ließen sich 8,020 Kilogramm Bleiglanz gewinnen, und diesen wurden 16,04 Gramm Silber entzogen. 1.140 Kilogramm Holz für Silber, aus dem man etwa 12 karolingische Denare prägen konnte – den karolingischen Königen schien das ein gutes Geschäft zu sein.

Abb. 5: Hinter einem bereits völlig vom Kalk des eindringenden Wasser überzogenen Abraumhaufen liegt im Hintergrund ein weiterer Berg von taubem Gestein, das bereits in der Grube aussortiert wurde.

Das taube, bereits in der Grube aussortierte Gestein liegt immer noch in riesigen Haufen herum. Es war zu aufwendig dieses Gestein über Tage zu bringen. Deshalb legte man in aufgelassenen Stollen Verfüllungen an und überall, wo sie nicht im Wege waren, sind noch heute die abgebauten, aber nicht zu verwertenden Steine gestapelt. Die Gefahr, daß ein Besucher so ein Zeugnis der karolingischen Bergwerkskunst mitnehmen könnte, ist denkbar gering. Denn alles ist in den Gängen mit einer feinen Schicht von Kalk überzogen, die durch Wasser entstanden ist, das seit dem 19. Jahrhundert einsickert und die Minen langsam in eine romantische Tropfsteinhöhle verwandelt.

Silberverhüttung unter den Karolingern
Wieder zurück aus den Minen entdeckt der überraschte Besucher ein riesiges Experimentierfeld, auf dem Wissenschaftler des CNRS unter Leitung von Florian Téreygeol öffentliche Versuche zur karolingischen Silberverhüttung durchführen.
Denn wir wissen eigentlich noch viel zu wenig über die konkreten Umstände, unter denen damals dem Gestein das Silber entzogen wurde. Und was wir glauben zu wissen, sind Vermutungen, die auf der Kenntnis der antiken Techniken und des umfassenden Werks von Georg Agricola aus dem 16. Jahrhundert beruhen.
Man geht heute davon aus, daß eine erste Zerkleinerung des Bleiglanzes bereits unter Tage erfolgte. Dabei konnte eine weitere, feinere Sortierung von taubem und Silber führendem Gestein durchgeführt werden. Was ans Tageslicht gelangte, war also nur ein winziger Bruchteil des abgebauten Gesteins. Über der Erde wurde eine weitere Zerkleinerung und Sortierung durchgeführt. Danach wurde das Material geschlemmt, also das zu Steingrus zerriebene Gestein in Wasserbecken gespült, um die schweren, Metall führenden und damit zu Boden sinkenden Anteile vom leichteren, tauben Gestein zu trennen.

Abb. 6: Nachgebauter Schmelzofen in Melle.

Die Verhüttung fand in der Nähe der Waschplätze statt. In großen Schmelzöfen wurde das Silberhaltige Blei aus dem Gestein geschmolzen, danach das Blei vom Silber getrennt. So kurz zusammengefaßt klingt das logisch und klar, doch über die Einzelheiten wissen wir nicht viel. Wie zum Beispiel muß so ein Schmelzofen beschaffen sein? Welche Mischung von Gestein und Holzkohle ist am effektivsten? Und wie bitte stellte man überhaupt eine für den Brand geeignete Holzkohle her? So gibt es also noch vieles, was im Unklaren liegt und die Forscher versuchen, dem auf den Grund zu gehen.

Abb. 7: Im Kuppelationsofen wurde das Blei vom Silber getrennt. Dabei nutzt man die Tatsache, daß Blei bei einer niedrigeren Temperatur als Silber oxidiert und sich in diesem Zustand an bestimmte Materialien anlagert, mit denen dieser Ofen ausgekleidet ist.

Und so fabrizieren sie Holzkohle, gießen und schmelzen und entziehen dem Silber das Blei, sie stellen Eisen her und prägen Münzen. Und bei all dem kann man dem Forscherteam an manchen Wochenenden im Sommer zusehen.

Das hochmittelalterliche Melle
Ende des 10. Jahrhunderts endete der Bergbau in Melle. Die Stadt sah einer trüben Zukunft entgegen, doch ihr Stadtherr fand einen Ausweg aus der Wirtschaftskrise. Er schenkte der Abtei St.-Jean-d’Angély die Kirche St. Hilaire, in der die Reliquien des heiligen Hilarius, lagen.

Abb. 8: St. Hilaire ist die bedeutendste der drei romanischen Kirchen, die einst die Pilger in Melle besuchten. Angegliedert war hier ein Pilgerhospiz, in dem sich die Gläubigen mehrere Tage lang erholen konnten.

In St.-Jean-d’Angély saßen damals die Kluniazenser und die waren damals dabei, den Pilgerweg nach Santiago di Compostela auszubauen. Sie machten Melle zu einer wichtigen Station, bauten hier eine bedeutende Kirche mit einem Pilgerhospiz, in dem – wie ein zeitgenössischer Pilgerführer schreibt – „die Bedürftigen Ruhe und Pflege, die Kranken Trost, die Toten das Heil, die Lebenden Hilfe“ fanden. Zum Dank für diese Hilfe schenkte jeder Pilger so viel er konnte. Und Melle erlebte im Hochmittelalter einen gewaltigen Aufschwung, so daß das hochmittelalterliche Melle dem frühmittelalterlichen an Bedeutung nicht nachstand.
Erst das Ende der Pilgerbewegung in der Reformation brachte für die Stadt den Niedergang. Und heute ist das mittelalterliche Zentrum eine kleine Gemeinde mit knapp 4.000 Einwohnern, die dem Besucher aber viel zu bieten hat.

Mehr über die Silberminen von Melle auf http://www.mellecom.com/~mines/index.htm